Recht auf Nichterreichbarkeit Arbeitsrecht Britta Redmann

Ein Recht auf Nichterreichbarkeit

Inhalt

Unsere derzeitigen Arbeitszeiten bewegen sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmung, Vereinbarung persönlicher Bedürfnisse mit unternehmerischen Interessen als auch dem Arbeitsschutz. Organisationsformen wie Agilität, mobiles Arbeiten oder Homeoffice stehen seit dem Coronavirus noch höher im Kurs. Tradierte Muster weichen aktuell in unseren Unternehmen zunehmend auf – wir verlassen unsere gewohnte Komfortzone und entdecken teils vorsichtig, teils radikal neue Möglichkeiten. In diese Gemengelage hinein, kommt ein Vorschlag aus dem Europäischen Parlament auf ein gesetzliches „Recht auf Nichterreichbarkeit“ für Arbeitnehmer.
Was beinhaltet ein solches Recht und welche Auswirkungen hat es auf uns als Mitarbeitende und auf unsere Wirtschaft?

Recht auf Nichterreichbarkeit: Warum?

Die europäische Beschäftigtenschutz verfolgt viele gute Dinge. Hier mal knapp die wesentlichen Ziele zusammengefasst:
• Faire, gleiche, hochwertige und gesunde Arbeitsbedingungen in Europa zu gewährleisten
• gleichzeitig Arbeitgebern notwendige Flexibilität zu verschaffen
• innovative Arbeitsformen zu fördern
• prekäre Arbeitsverhältnisse und Missbrauch zu verhindern

In diesem Kontext ist nun auch der Vorschlag zu einem Recht auf Nichterreichbarkeit zu sehen, bei dem in erster Linie der Schutz des Arbeitnehmers im Mittelpunkt steht. So ist bekannt, dass digitale Instrumente es Mitarbeitenden ermöglichen, jederzeit von überall aus zu arbeiten. Damit können sich berufliche und private Interessen sicherlich besser vereinbaren lassen. Es gibt jedoch auch mögliche negative Auswirkungen, wie z.B. das Aufweichen von fest definierten Arbeitszeiten, ggf. eine höhere Arbeitsintensität sowie das Verwischen der Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit. Die Verwendung zunehmender digitaler Arbeitsmittel kann daher – je nach Persönlichkeitsstruktur- auch zu vermehrtem Druck und Stress und damit in (Berufs-)Krankheiten führen, was wiederum Arbeitgeber und Sozialversicherungssysteme zunehmend belastet. Es gibt also große Herausforderungen zu meistern, die durch die COVID-19-Krise sogar noch dringlicher geworden sind, da mobiles Arbeiten und Homeoffice noch stärker zunehmen werden und vielleicht sogar müssen.

Recht auf Nichterreichbarkeit: Was heißt das?

Das Recht auf Nichterreichbarkeit soll dabei bedeuten, „weder direkt noch indirekt außerhalb der Arbeitszeit arbeitsbezogene Tätigkeiten oder Kommunikation mit digitalen Werkzeugen auszuüben.“
Es beinhaltet also eine Nicht-Beteiligung des Mitarbeitenden an seiner arbeitsvertraglichen Tätigkeit oder auch seiner Kommunikation außerhalb der Arbeitszeit und bezieht sich insbesondere hier auf Interaktionen wie Telefonanrufe, E-Mails oder eben andere digitale Medien. Das Recht auf Nichterreichbarkeit soll damit ein Recht geben, solche arbeitsbezogenen (digitalen) Instrumente abzuschalten und damit nicht auf Wünsche des Arbeitgebers außerhalb der Arbeitszeit zu reagieren. Und das eben ohne nachteilige Folgen für die Mitarbeitenden.

Das Recht auf Nichterreichbarkeit: Für wen gilt es?

Der Anwendungsbereich des Rechts auf Nichterreichbarkeit bezieht sich auf alle Arbeitnehmer aller Branchen und soll zusätzlich auch für Plattformbeschäftigte sowie Auszubildende und Praktikanten gelten.

Maßnahmen + Schutz des Rechts auf Nichterreichbarkeit

Hierzu sollen die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft verpflichtet werden, dieses Recht auf Nichterreichbarkeit für Arbeitnehmer sicherzustellen. Dabei sollen insbesondere die Arbeitgeber verpflichtet werden – es wäre dann also für Arbeitgeber verboten – auf die Arbeitskraft von Mitarbeitenden außerhalb der Arbeitszeit zuzugreifen. Dies sicherzustellen soll unter anderem mit einer objektiven, verlässlichen und zugänglichen Zeitaufzeichnung erfolgen, auf die Arbeitnehmer jederzeit Zugriff haben. Damit werden die Anforderung an die Arbeitszeiterfassung, die das Urteil des EUGH (Urteil vom 14.05.2019 – C-55/18 = NJW 2019, 1861) bereits aufgeworfen hatte, noch einmal erweitert.

Weiterhin sollen Regelungen festgelegt werden, in denen durch Tarifvereinbarungen vom Recht auf Nichterreichbarkeit auch wieder abgewichen werden kann.
In der Empfehlung des Europäischen Parlaments werden zudem besondere Schutzvorschriften für Arbeitnehmer festgelegt, die sicherstellen sollen, dass die Ausübung des Rechts auf Nichterreichbarkeit auf keinen Fall nachteilig für den Mitarbeitenden ist. In diesem Rahmen soll z.B. auch die Beweislast derart ausgestaltet werden, dass grundsätzlich dann hier der Arbeitgeber beweisen müsste, dass dem Arbeitnehmer kein Nachteil entstanden ist, weil er nichterreichbar war. Gleichzeitig ist auch geplant, Gewerkschaften stärker einzubinden und sie bei der Durchsetzung des Rechts auf Nichterreichbarkeit zu unterstützen.

Pro & Con

Das Recht auf Nichterreichbarkeit für Beschäftigte findet sich bisher schon in einigen Tarifverträgen, wie z.B. zur mobilen Arbeit in der Metall- und Elektroindustrie sowie in der Chemischen Industrie. Auch in vielen betrieblichen als auch vertraglichen Vereinbarungen zu mobiler Arbeit findet es Berücksichtigung.
Im Sinne des Arbeitsschutzes und auch der möglichen Überforderung von Mitarbeitern ist ein Recht auf Nichterreichbarkeit durchaus nachvollziehbar.


Neu ist dagegen, dass es nun für alle gesetzlich verankert werden soll und hier sogar nicht nur auf Arbeitnehmer sondern sogar darüber hinaus für Plattformbeschäftigte, Auszubildende und Praktikanten gelten soll.
Was unser Arbeitszeitgesetz angeht, so ist dieses ja leider sehr starr und steht oft im Widerspruch zu den flexiblen Bedürfnissen von Mitarbeitenden und auch Unternehmen.

Ob hier eine weitere „starre“ Regel hilft, die so notwendige und auch im Beschäftigtenschutz als Ziel verstandene Flexibilisierung von Arbeit in unseren Unternehmen und damit auch einer schnelleren Reaktionsfähigkeit auf Veränderungen und Rahmenbedingungen unkompliziert zu gestalten, erschließt sich mir hier noch nicht.
Auch eine Erweiterung der generellen Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung durch den Arbeitgeber sehe ich nicht zwingend hier mit dem Thema der Erreichbarkeit verbunden. Geht es doch gerade bei mobiler Arbeit und auch in einem agilen Kontext darum, Eigenverantwortung, Gestaltung und Agilitätskompetenz zu fördern.

Fazit:

Wie geht es jetzt weiter? Der Entwurf des Vorschlags zu einem Recht auf Nichterreichbarkeit wird nun zunächst im Europäischen Parlament beraten werden. Eine Verabschiedung hierzu ist für Anfang Dezember geplant. Es bleibt also noch abzuwarten, ob es einen Entwurf dann tatsächlich geben wird. Und was wäre, wenn es denn so kommen würde?
Als Arbeitnehmerin freue ich mich über ein fast uneingeschränktes Recht auf Nichterreichbarkeit mit umgekehrter Beweislastumkehr für den Arbeitgeber und es gibt mir sehr viel Sicherheit.
Als Mediatorin sage ich, dass dieses Recht auf Nichterreichbarkeit helfen kann, mögliche Konflikte gar nicht entstehen zu lassen und für alle Seiten dann für (gesetzlich verbindliche) Klarstellung sorgt.
Als Unternehmerin würde ich wahrscheinlich sehr skeptisch sein – mein Handlungsspielraum wäre dann doch sehr eingeschränkt und ob das dann Europa als Wirtschaftsstandort für Unternehmen langfristig attraktiv machen würde, ist auf jeden Fall sehr differenziert zu betrachten. Ein Homeoffice kann sicherlich in Europa seinen Platz haben, es kann aber auch in anderen Ländern stehen, die andere Rechtsordnungen haben. Dies sollte bei allen positiven Absichten nicht vergessen werden. Kluge Lösungen sind gefragt!

Quellen/Hinweise:

Empfehlung des Beschäftigtenausschuss (EMPL) des Europäischen Parlaments (EP) an die Kommission zum Recht auf Nichterreichbarkeit (2019/2181(INL))

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