„Ich brauche das jetzt“, sagt der Azubi. Eine ältere Kollegin schüttelt verwundert den Kopf. „Das hätten wir uns früher nicht gewagt“… Schwupps – ist man mittendrin in der stereotypen Genderdebatte.
Dabei ist doch grundsätzlich gar nichts verwerfliches daran, seine Bedürfnisse zu äußern. Nur, weil das früher nicht üblich war, heißt das nicht, dass dies einer modernen Arbeitswelt nicht zuträglich sein kann. Denn immerhin habe wir sie alle – individuelle Bedürfnisse. Nur, weil wir sie je nach Situation unterdrücken, macht es sie nicht weniger wichtig. Und uns nicht glücklicher.
Ein Fallbeispiel
Stellen wir uns folgende Konstellation in einem mittelständischen Familienunternehmen vor:
• Da ist der Arbeitgeber, ein traditioneller Familienunternehmer, der den Erfolg seines Unternehmens ebenso im Blick hat wie die Sorge um seine Angestellten und der von einer Auszeit zwar insgeheim träumt, dies aber nie zugeben würde,
• eine leitende Angestellte, die aufgrund ihrer familiären Situation lieber kürzertreten würde, sich dem Senior aber verpflichtet fühlt,
• der junge Kollege, der in Kürze in Elternzeit gehen möchte und für dessen Position noch keine Nachfolge gefunden wurde,
• der Auszubildenden, der neben dem Job auch noch die Berufsschule und seine Hobbies und Freunde unter ein Dach bringen möchte,
• der Betriebsratsvorsitzenden, der eine zunehmende Unzufriedenheit im Betrieb wahrnimmt und mehr Flexibilität bei den Arbeitszeiten durchsetzen möchte.
Ziemlich schnell können wir daraus folgende Standpunkte ableiten.
Der Arbeitgeber:
• Traditionelle Werte und Arbeitsweisen haben das Unternehmen erfolgreich gemacht und sollten bewahrt werden.
• Es ist wichtig, Verantwortung zu übernehmen und das Wohl des Unternehmens sowie der Mitarbeitenden im Auge zu behalten.
• Persönliche Bedürfnisse müssen manchmal zurückgestellt werden, um das Unternehmen am Laufen zu halten.
• Eine Auszeit zu nehmen könnte als Schwäche angesehen werden und das Vertrauen der Mitarbeitenden in die Führung schwächen.
• Flexibilität bei Arbeitszeiten könnte die Effizienz beeinträchtigen und die Struktur des Unternehmens durcheinanderbringen.
Die leitende Angestellte:
• Eine ausgewogene Work-Life-Balance ist entscheidend für die Zufriedenheit und Produktivität der Mitarbeitenden.
• Familiäre Verpflichtungen sollten nicht vernachlässigt werden und verdienen genauso viel Beachtung wie berufliche Verantwortlichkeiten.
• Das Verantwortungsbewusstsein des Vorgesetzen muss durch Leistung und Anwesenheit anerkannt werden – immerhin sichert er auch die Jobs.
• Es ist wichtig, die loyalen Mitarbeitenden zu unterstützen und ihre Bedürfnisse anzuerkennen, um sie langfristig im Unternehmen zu halten.
• Eine Kultur der Offenheit und Flexibilität kann das Arbeitsklima verbessern und die Motivation der Mitarbeitenden steigern.
Der junge Kollege:
• Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sollte nicht nur ein Lippenbekenntnis sein, sondern aktiv gefördert werden.
• Es ist wichtig, dass das Unternehmen eine Kultur der Unterstützung für Mitarbeitende in verschiedenen Lebensphasen schafft, einschließlich der Elternzeit.
• Das Fehlen einer geeigneten Nachfolge für seine Position sollte nicht dazu führen, dass der Mitarbeitende seine Pläne für die Elternzeit aufgeben muss.
• Die Einführung von flexibleren Arbeitsmodellen könnte helfen, Engpässe bei der Personalbesetzung zu überbrücken und die Mitarbeitendenbindung zu stärken.
• Es ist wichtig, junge Talente zu fördern und zu halten, auch wenn dies bedeutet, dass das Unternehmen sich an neue Arbeitsweisen anpassen muss.
Der Auszubildende:
• Die Ausbildung ist eine wichtige Phase im Berufsleben und sollte nicht durch zu hohe Arbeitsbelastung oder mangelnde Flexibilität beeinträchtigt werden.
• Es ist wichtig, dass das Unternehmen Verständnis für die Bedürfnisse junger Mitarbeiter zeigt, die neben dem Job auch noch andere Verpflichtungen haben.
• Eine gute Work-Life-Balance ist auch für Auszubildende entscheidend, um langfristig motiviert und engagiert zu bleiben.
• Das Unternehmen sollte Möglichkeiten bieten, um Ausbildung und persönliche Interessen zu vereinen und so das Wohlbefinden der Auszubildenden zu fördern.
• Eine Kultur der Unterstützung und Flexibilität kann dazu beitragen, das Engagement und die Loyalität der Auszubildenden zu stärken.
Der Betriebsratsvorsitzender:
• Es gibt eine wachsende Unzufriedenheit unter den Mitarbeitenden hinsichtlich der starren Arbeitszeiten und fehlender Flexibilität.
• Der Betriebsrat vertritt die Interessen der Mitarbeitenden und setzt sich für Verbesserungen in der Arbeitsorganisation ein.
• Flexiblere Arbeitszeiten könnten dazu beitragen, die Mitarbeitendenzufriedenheit zu steigern und die Fluktuation im Unternehmen zu verringern.
• Es ist wichtig, dass das Unternehmen auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden eingeht und moderne Arbeitsmodelle einführt, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
• Eine enge Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ist entscheidend, um Lösungen zu finden, die sowohl den Interessen des Unternehmens als auch denen der Mitarbeitenden gerecht werden.
Ein Gespräch über Bedürfnisse
Was passiert wohl, wenn diese Bedürfnisse und Standpunkte aufeinandertreffen? Wie sieht eine Diskussion der 5 an einem Tisch aus?
Arbeitgeber: „Ich verstehe eure Bedenken, aber wir dürfen nicht vergessen, was unser Unternehmen stark gemacht hat – unsere traditionellen Werte und Arbeitsweisen. Diese haben uns über Generationen hinweg Erfolg gebracht. Eine plötzliche Veränderung unserer Arbeitskultur könnte das Gleichgewicht stören und uns langfristig schaden.“
Leitende Angestellte: „Das verstehe ich, aber wir müssen auch erkennen, dass sich die Arbeitswelt verändert hat. Unsere Mitarbeitenden haben Bedürfnisse jenseits des Arbeitsplatzes, und wenn wir flexibler werden, könnten wir ihre Loyalität und Produktivität steigern. Eine Balance ist entscheidend für ihr Wohlbefinden und letztendlich für den Erfolg des Unternehmens.“
Junger Kollege: „Genau, und das betrifft auch mich. Ich stehe kurz davor, in Elternzeit zu gehen, und ich bin besorgt darüber, wie das Unternehmen meine Abwesenheit bewältigen wird. Es ist wichtig, dass wir Wege finden, um meine Position während meiner Abwesenheit zu besetzen, ohne dass das Unternehmen darunter leidet.“
Auszubildender: „Ich möchte auch ein paar Worte dazu sagen. Als Auszubildender habe ich nicht nur berufliche Verpflichtungen, sondern auch schulische und persönliche. Es wäre großartig, wenn das Unternehmen mehr Flexibilität bieten könnte, damit ich meine verschiedenen Verpflichtungen besser unter einen Hut bringen kann.“
Betriebsratsvorsitzender: „Ich stimme zu. Wir haben bereits eine zunehmende Unzufriedenheit unter den Mitarbeitenden festgestellt, insbesondere in Bezug auf die starren Arbeitszeiten und die mangelnde Flexibilität. Wenn wir die Produktivität steigern und die Mitarbeiterbindung stärken wollen, müssen wir modernere Arbeitsmodelle einführen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ist entscheidend, um Lösungen zu finden, die sowohl den Interessen des Unternehmens als auch denen der Mitarbeiter gerecht werden.“
Arbeitgeber: „Ich verstehe eure Bedenken, aber wir müssen auch vorsichtig sein. Wir dürfen nicht zu schnell handeln und unsere bewährten Methoden über Bord werfen. Vielleicht können wir Kompromisse finden, die sowohl die Bedürfnisse der Mitarbeiter als auch die Stabilität des Unternehmens berücksichtigen.“
Leitende Angestellte: „Natürlich, ich denke, ein schrittweiser Ansatz wäre sinnvoll. Wir könnten kleine Veränderungen einführen und dann ihre Auswirkungen beobachten, bevor wir größere Entscheidungen treffen. Auf diese Weise können wir sicherstellen, dass wir die richtigen Schritte unternehmen, um die Zufriedenheit und Effizienz im Unternehmen zu steigern.“
Junger Kollege: „Das klingt vernünftig. Ich bin sicher, dass wir gemeinsam Lösungen finden können, die für alle Beteiligten funktionieren. Es geht darum, ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen des Unternehmens und denen der Mitarbeitenden zu finden.“
Auszubildender: „Genau, und ich bin zuversichtlich, dass wir durch offene Kommunikation und Zusammenarbeit positive Veränderungen erreichen können. Am Ende des Tages wollen wir alle, dass das Unternehmen erfolgreich ist und gleichzeitig ein unterstützendes und flexibles Arbeitsumfeld bietet.“
Betriebsratsvorsitzender: „Das sehe ich genauso. Ich denke, wenn wir weiterhin offen für den Dialog sind und gemeinsam nach Lösungen suchen, können wir die Herausforderungen meistern, vor denen wir stehen. Es geht darum, gemeinsam voranzukommen und das Unternehmen für die Zukunft zu stärken.“
Die Lösung?
Das klingt zu schön, um wahr zu sein? Nein – das sehe ich anders. Und tatsächlich erlebe ich es in meinen Beratungen oft auch anders. Die skizzierten Parteien gibt es so oder ähnlich in fast jedem Unternehmen oder vielleicht je nach Unternehmensgröße auch auf Abteilungsebene. Nicht die notwendige Flexibilität ist es, die fehlt, sondern die Kommunikation darüber! Sobald diese in Gang gesetzt wird, ist die Lösungsfindung (fast) nur noch Formsache – wenn alle kompromissbereit sind und Flexibilität ebenso wie Bedürfnisbefriedigung nicht als Einbahnstraße verstanden werden.
Je komplexer die identifizierten Bedürfnisse, desto komplexer ein mögliches Arbeitszeitmodell – aber ein solches komplexes Modell ist dann durch die vielen Synapsen und Knotenpunkte auch extrem widerstandsfähig und wird von allen im Team getragen!
Leider gibt es die Pauschalantwort nicht – wohl aber ganz viel Möglichkeiten. Und so banal es klingt: Flexibilität wird den Bedürfnissen der Mitarbeitenden eigentlich immer gerecht. Dazu gehören:
Gleitende/ flexible/ Vertrauensarbeitszeit:
Mitarbeitende können ihre Arbeitszeit innerhalb eines bestimmten Rahmens flexibel gestalten. Dies ermöglicht es ihnen, ihre Arbeit an ihre persönlichen Bedürfnisse anzupassen, sei es für Kinderbetreuung, Weiterbildung oder andere Verpflichtungen. Solche Modelle passen grundsätzlich immer, sofern z.B. im Schichtbetrieb alle Stationen besetzt und in Unternehmen, in denen Servicezeiten abgebildet werden müssen, diese garantiert sind. Flexibilität ist immer eine Frage der Organisation und der Kommunikation.
Homeoffice:
Das Unternehmen kann Homeoffice-Optionen anbieten, die es den Mitarbeitenden ermöglichen, von zu Hause aus zu arbeiten, wenn dies für ihre Arbeit geeignet ist. Dies kann dazu beitragen, den Pendelverkehr zu reduzieren und die Work-Life-Balance zu verbessern. Für den Azubi, der sich erst noch an Abläufe gewöhnen und angelernt werden muss, vielleicht keine Option – wohl aber für alle anderen Mitarbeitenden, sofern sie nicht im Kundenkontakt oder Produktionsprozess eingebunden sind. Wichtig ist hier auch die Flexibilität der Mitarbeitenden – was für den einen Kollegen geht, muss nicht immer für alle möglich sein. Faire Arbeitszeitmodelle sind nicht immer auch identische Arbeitszeitmodelle – hier kommt es darauf an, dass jedem Mitarbeitenden nach seinen Aufgaben passende Möglichkeiten aufgezeigt werden und zwischen den Teams kein Neidfaktor entsteht.
Verkürzte Arbeitswoche:
Eine verkürzte Arbeitswoche mit weniger Stunden pro Tag oder weniger Arbeitstagen pro Woche könnte eingeführt werden, um den Mitarbeitenden mehr Freizeit zu ermöglichen und ihre Lebensqualität zu verbessern. Das kann für die leitende Angestellte eine Option sein – entweder über ein Teilzeitmodell oder aber auch durch eine Reorganisation der Arbeitszeit. Die laufenden Tests zur 4-Tage-Woche weisen schon darauf hin, dass es möglich ist in weniger Zeit die gleiche Leistung zu erbringen – wenn die Motivation stimmt und dadurch eben auch weitere Bedürfnisse befriedigt werden können.
Jobsharing:
Jobsharing-Modelle könnten implementiert werden, bei denen zwei Mitarbeitende sich eine Vollzeitstelle teilen. Dies ermöglicht es beiden, ihre Arbeitszeit zu reduzieren und gleichzeitig ihre Karriere fortzusetzen. Dies kann sowohl für Führungskräfte eine gute Option sein und berücksichtigt familiäre Situationen der Mitarbeitenden, die sich natürlicherweise im Laufe eines Arbeitslebens mehrfach ändern.
Zeitkonten:
Mitarbeiter könnten Zeitkonten nutzen, um Überstunden anzusammeln und bei Bedarf abzubauen, oder um flexible Arbeitszeitmodelle zu unterstützen. Hier ist definitiv auch auf eine gesunde Verteilung von Arbeitszeit zu achten – viele Überstunden anzusammeln, um dann irgendwann völlig erschöpft im Burnout zu landen statt in der Freizeit ist sicher keine Option. Aber in einem maßvollen Umgang ist das sicher auch eine sinnvolle Lösung – vor allem auch für den Seniorchef, der so das „langsame Abgeben“ trainieren kann.
Fazit
Nach einer ausführlichen Diskussion und dem gemeinsamen Erkennen der unterschiedlichen Bedürfnisse und Perspektiven freuen sich alle Beteiligten darauf, eine flexible und hybride Arbeitsorganisation umzusetzen. Die Anerkennung der individuellen Bedürfnisse jedes Einzelnen hat dazu beigetragen, ein Gefühl der Motivation und des „in einem Boot seins“ zu schaffen. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um gemeinsam an der Gestaltung einer Arbeitsumgebung zu arbeiten, die sowohl die Bedürfnisse der Mitarbeiter als auch die Anforderungen des Unternehmens berücksichtigt. Offenheit, Kommunikation und Zusammenarbeit erzeugt erfolgreiche Lösungen.
Ich brauch´ das jetzt – das gilt für jeden von uns!