Kennen Sie schon den Mut-Paragrafen im Betriebsverfassungsgesetz, der Arbeitgeber und Betriebsräte gleichermaßen rechtlich verpflichtet (!) mutig zu sein? Sie kennen ihn nicht? Dann wird es Zeit, den § 75 Abs. 2 BetrVG als Brücke zu unserem Grundgesetz und als Maßgabe für eine agile Mitbestimmung einmal näher zu betrachten.
Mitbestimmung muss agil sein
So wird aktuell gerade viel über Mitbestimmung oder neuerdings auch Mitbestimmung 4.0 im Rahmen von neuer, agiler Arbeit diskutiert. Es beschäftigt Unternehmen, HR und Sozialpartner und ist ein Trendthema auf vielen Konferenzen. Die dabei alle bewegende Frage: Was passiert mit der uns bekannten (und vertrauten?) Mitbestimmung, wenn Mitarbeiter sich selbst organisieren, z.B. ihr Gehalt frei wählen dürfen und aus Kollegen Product Owner werden? Wird dann der Betriebsrat zum Scrum Master?
Bewegte Zeiten brauchen agiles Arbeiten
In vielen Unternehmen wird mittlerweile agil gearbeitet. Und das gilt nicht nur für die Softwareentwicklungsabteilung und für Startups. Auch konventionelle Betriebe unterliegen den aktuellen Anforderungen unserer Zeit, sich schnell, situativ und souverän auf die jeweiligen Umstände einstellen zu müssen. Gerade jetzt in der Pandemie wird dies umso deutlicher, wie wichtig eine solche (Agilitäts-)Kompetenz für Unternehmen ist. https://www.britta-redmann.de/agilitaetskompetenz-von-der-not-der-veraenderung-zum-wunsch-nach-veraenderung/
Eine Agilitätskompetenz in einer Organisation zeigt sich daran, wie Strukturen und Prozesse die Organisation und die in ihr befindlichen Menschen immer wieder befähigen, mit Unsicherheiten verantwortungsvoll umzugehen und (immer wieder) daraus zu lernen. Dann entsteht eine agile Kultur. Als Prozess in der Zusammenarbeit in den Teams und im Selbstverständnis der Menschen, die ihre Arbeit als Leidenschaft und Veränderung als deren Motor verstehen.
Hierin sind sich Unternehmen und Betriebsräte (meist) einig.
Agiles Arbeiten ist nicht Arbeit im rechtsfreien Raum
Doch wie gelingt das denn jetzt mit der Mitbestimmung beim agilen Arbeiten? Teilweise bilden Gewerkschaften selbst Betriebsräte zu Scrum Mastern aus, um Teil eines Scrum Teams zu werden.
Doch Fakt ist, Agiles Arbeiten oder die Anwendung agiler Methoden innerhalb eines Arbeitsverhältnisses lösen ja nicht den rechtlichen Rahmen auf. Egal ob #OldWork oder #NewWork: wir leben nicht in einem rechtsfreien Raum. Und im Arbeitsverhältnis sind die entsprechenden Gesetze zu beachten.
Agilität & Arbeitsrecht als perfekter Mix
Es geht aber auch nicht darum, auf Teufel komm raus alle Prozesse zu „agilisieren“. Unternehmen müssen lernen, den für sich perfekten Mix aus traditionellen und agilen Formen der Zusammenarbeit zu finden. Agile Arbeitsformen da einzusetzen, wo sie sinnvoll sind und hierbei die Bedürfnisse von Mitarbeitenden genauso wie die Ziele des Unternehmens gleichermaßen zu berücksichtigen. Das Arbeitsrecht bietet dabei den kreativen und rechtssicheren Rahmen, innerhalb dessen ein bestmögliches Arbeitsumfeld und ein kollegiales, werteorientiertes Miteinander geschaffen werden kann, das natürlich auch dem Unternehmenszweck dient.
Agiles Arbeiten als Vorgabe der (Betriebs-)Verfassung
Hierbei kann der Betriebsrat nicht nur ein Mitgestalter sein – er muss es sogar auch sein: Aus § 75 Abs. 2 BetrVG ergibt sich eine gesetzliche Verpflichtung an Arbeitgeber und Betriebsräte gleichermaßen, dass „die freie Entfaltung der Persönlichkeit der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer zu schützen und zu fördern“ ist. Daraus ergibt sich nicht nur eine Schutzpflicht sondern das Gesetz enthält eine ausdrückliche Pflicht zur aktiven Förderung einer betrieblichen Ordnung, in der „Selbstbestimmung, Freiheit der Einzelpersönlichkeit, Freiraum für Entscheidungen, Eigenverantwortung und Kreativität der Arbeitnehmer und der Arbeitsgruppen“ geschaffen werden.
Bei der Beachtung dieser Maßgabe müssen natürlich alle Beteiligten „ihren“ Job machen: also die Arbeitgeber den Betriebsrat entsprechend der gesetzlichen Vorgaben bei der Mitbestimmung einbeziehen und genauso haben sich Betriebsräte mit neuen, agilen Formen der Zusammenarbeit auseinandersetzen. Und beide haben dies so zu tun und eine Mitbestimmung so umzusetzen, dass der Unternehmenszweck dabei bestmöglich unterstützt wird.
Agiles Arbeiten ist die freie Entfaltung der Persönlichkeit
Charakteristisch für die Ziele einer agilen Organisation oder eines agilen Teams ist es, beweglich und selbstorganisiert zu agieren, Wissen und Erfahrungen direkt zu teilen und mit transparenten Prozessen und Strukturen eine innovative Kultur zu schaffen. Dies gelingt durch agile Arbeitsweisen, die sich durch ein iteratives Vorgehen, Ausprobieren, dem Sichtbarmachen von Ergebnissen und dem stetigen daraus Lernen und Optimieren auszeichnen. All dies mit einer hohen eigenen Verantwortung. Arbeitsweise und Ziele von agilen Organisationen bedingen sich gegenseitig und basieren auf der Grundannahme, dass jeder Mensch motiviert ist, sinnstiftend und wertschöpfend zu arbeiten. Menschenbild und Arbeitsweise sind miteinander gekoppelt und finden sich in allen agilen Frameworks wieder. Agilität stellt sowohl ein stetiges Wachstum des Einzelnen als auch der Gruppe sicher. In agiler Arbeit kommt damit eine freie Persönlichkeitsentwicklung im Sinne des Gesetzes zum Ausdruck.
§ 75 Abs. 2 BetrVG fordert agile Werte ein
In dieser Norm des Betriebsverfassungsgesetzes, die einen eindeutigen materiellen Anspruch auf Förderung der Entfaltung der Persönlichkeit enthält, kommt unsere grundgesetzliche Verfassung aus Art 2, 3, 9 GG ganz klar zum Ausdruck. Was bedeutet das jetzt konkret wieder für die Mitbestimmung?
Die IG Metall z.B. fordert, agile Arbeit ausdrücklich in das Betriebsverfassungsgesetz aufzunehmen. Dabei ist es doch schon längst in genau diesem enthalten, wenn auch „zwischen den Zeilen“.
Denn: Wenn agile Werte und Prinzipien gelebt werden, wirken sie sich auf alle Bereiche eines Unternehmens aus. Durch iterative Prozesslandschaften mit kurzen Planungszyklen können Veränderungen schnell besprochen, probiert, kommuniziert und umgesetzt werden. Anstelle von Silostrukturen treten kundenorientierte Netzwerkstrukturen. Agile Unternehmenskulturen sind von Transparenz, Dialog, Vertrauen und einer konstruktiven Fehlerkultur geprägt.
§ 75 2 BetrVG fordert damit konkret diese agile Werte ein. Und zwar genauso bei der Mitbestimmung selber. Von Arbeitgebern und Betriebsräten. Nicht das WAS bzw. das OB der Mitbestimmung ist fraglich sondern das WIE. Eine agile Mitbestimmung bedarf einer agilen Haltung. Bei allen Akteuren – insbesondere bei den Betriebsparteien. In § 75 Abs. 2 BetrVG ist ein positives Menschenbild wie in den agilen Werten und Prinzipien verankert. Freiraum zur Selbststeuerung ist damit gelebte Agilität. Es geht genau darum, respektvoll miteinander zu wirken, offen für neue Wege zu sein, Dinge anzugehen und auszuprobieren und aus den Erfahrungen (und ggf. aus Fehlern) zu lernen.
Fazit:
Arbeitgeber und Betriebsrat sind in der Umsetzung einer agilen und mutigen Mitbestimmung Rolemodel für agiles Arbeiten. Nicht das WAS in der Mitbestimmung muss agil sein sondern das „WIE“. Aus dem Miteinander zu lernen und vor allem: Mut, zu haben! Mut zu haben, Eigeninitiative zu fördern und Selbstentfaltung zu ermöglichen, aus Erfahrungen gemeinsam zu lernen… und vor allem: immer wieder den Mut zu haben, dem anderen zu vertrauen und den Mut zu haben, dem anderen es auch zuzutrauen. Dann kann ein agiles Arbeiten seine volle Wirkung entfalten und eine Entwicklung fördern, die das Unternehmen im Sinne aller Beteiligten – Unternehmer & Beschäftigte – stärker macht.
Quelle:
Foto und Grafiken: B. Redmann
Beck online: ErfK BetrVG § 75, Richardi, § 75 BetrVG
https://www.boeckler.de/de/tagungsberichte-18029-Mitbestimmung-bei-agiler-Arbeit-Neues-Gutachten-30881.htm
https://persoblogger.de/2020/11/09/agiler-betriebsrat-2-0-iterative-betriebsvereinbarungen-und-mehr/