Wie ein Tarifvertrag zu agiler Zusammenarbeit bewegt
Tarifverträge – sind das nicht diese traditionsreichen kollektiven Vertragskonstrukte, in denen alle Entgeltbestandteile bis aufs kleinste Detail eng geregelt sind? Struktur pur und eher langweilig als innovativ. Tarifverträge und auch betriebliche Mitbestimmung – ist das nicht ganz „alte Arbeitswelt“ und völlig überholt? Wer ausschließlich so denkt, verpasst gerade vielleicht die neueste Entwicklung in der Tariflandschaft und damit auch wertvolle Impulse.
Tarif im Wandel: Zeit ist das neue Geld
Ja, richtig: Tarifverträge gehören in Deutschland zu den etablierten Vergütungssystemen nach denen mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer in Deutschland bezahlt werden. Also schon mal eine ganze Menge, die davon betroffen sind.
Bis vor kurzem ging es in Verhandlungen zwischen den Tarifparteien im Wesentlichen immer nur um Fragen und Themenstellungen rund um Lohnerhöhungen. Herkömmliche tarifliche Vergütungssysteme bezogen sich daher in der Regel hauptsächlich auf den Faktor Geld. Dies ändert sich gerade. So hat sich in der Metall- und Elektroindustrie mit dem neuen Abschluss aus 2018 ein modernes Tarifsystem entwickelt, in dem ganz deutlich der Wandel von „Zeit als das neue Geld“ zu erkennen ist. Das Verhandlungsergebnis hat hier vor allem in puncto Regelungen zur Arbeitszeit Neuland geschaffen, die es ermöglichen, innerhalb eines rechtssicheren Handlungsrahmens einen agilen Spielraum für Unternehmen und Mitarbeiter zu gestalten.
Der Wirkungsbereich der Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie ist bedeutsam: „In M+E-Verbänden sind insgesamt 6.300 Unternehmen mit mehr als 2 Millionen Beschäftigten organisiert. Davon sind 3.900 Unternehmen tarifgebunden (mit 1,8 Mio. Beschäftigten) und 2.400 sogenannten „OT-Mitgliedern“ (mit 330.000 Beschäftigten).“ Diese umfangreichen Regelungen sind bisher einmalig in der Tariflandschaft und vielleicht ist mit ihnen sogar ein richtungsweisender Weg für andere Branchen aufgezeigt worden.
Wie sehen diese Regelungen im Einzelnen aus?
Anspruch auf verkürzte Arbeitszeit
Jeder Mitarbeiter in Vollzeit und mit einer Betriebszugehörigkeit von mindestens 2 Jahren hat nun einen eigenen Anspruch darauf, seine Arbeitszeit bis auf 28 Stunden in der Woche (was in der M+E Industrie im Prinzip einem Tag entspricht bei einer „normalen“ 35 Stunden Woche) zu verkürzen – egal ob er im Büro tätig ist oder als Schichtarbeiter oder in der Produktion an der Maschine steht. Damit wird der Sehnsucht vieler Mitarbeiter Rechnung getragen, mehr „eigene“ Zeit zur Verfügung haben zu können, egal, welche Jobs sie ausüben. Der – wenn auch nicht ganz bedingungslose – tarifliche Anspruch besteht neben den gesetzlichen Ansprüchen auf Brückenteilzeit.
Selbstbestimmung für Mitarbeiter: Mehr Geld oder Zeit?
Bestimmte Gruppen von Mitarbeitern (Schichtarbeiter, Eltern und Pflegende) dürfen nach dem Tarifvertrag T-ZUG zwischen der Auszahlung eines Zusatzgeldes oder der Gewährung von 8 freien Arbeitstagen wählen und damit bestimmen, was sie lieber wollen. Diese Entscheidungsfreiheit kann jedes Jahr aufs Neue ausgeübt werden.
Bedarfsorientiertes Arbeitszeitvolumen für Unternehmen
Demgegenüber stehen Betrieben vielfältige erweiterte Möglichkeiten zur Verfügung, Arbeitszeitvolumen ganz individuell auf ihr Unternehmen und ihren konkreten betrieblichen Bedarf bezogen generieren zu können. Firmen können dabei aus verschiedenen Modellen auswählen, wie sie ihr betriebliches Arbeitszeitvolumen verlängern und auch flexibilisieren können. Das kann auf ganz unterschiedliche Weise geschehen. Gleichzeitig können die Wünsche der Beschäftigten nach einer verkürzten Arbeitszeit sowie die betrieblichen Belange nach einem reibungslosen Ablauf, besser miteinander in Einklang gebracht werden. Wird also auf der einen Seite weniger gearbeitet, soll eine adäquate Kompensation auf der anderen Seite erfolgen können. Dazu wurden die bisherigen tariflichen Quotenregelungen erweitert als auch neue Modelle entwickelt.
Arbeiten von wo ich will
Mobiles Arbeiten ist jetzt auch tarifvertraglich geregelt. Damit sich eine bessere Vereinbarkeit der Arbeitstätigkeit mit der persönlichen Lebensführung verwirklichen lässt, gibt es einen eigenen Tarifvertrag zum „mobilen Arbeiten“, den TV MobA. In diesem Teil des Tarifvertrages geht es um die Bestimmungen für ortsungebundenes Arbeiten und dem Loslösen vom Arbeitsort „Betriebsstätte“. Der Tarifvertrag versteht sich an dieser Stelle als „flankierende“ Regelung, die einen Rahmen für die konkreten betrieblichen Gegebenheiten schafft. Es werden also keine einzelnen Regelungen vorgegeben sondern ein sicherer rechtlicher Rahmen geschaffen, innerhalb dessen die Unternehmen dann ihre ganz eigenen betrieblichen Bedürfnisse gestalten können.
Quintessenz
Das Besondere an diesem neuen Tarifvertragssystem sind die vielfältigen Möglichkeiten bezogen auf das Arbeitszeitvolumen sowohl für Mitarbeiter als auch für Unternehmen. Damit kommen sie in weiten Teilen dem großen Bedürfnis „Zeit“ nach – das sowohl bei Mitarbeitern als auch Unternehmen besteht. Mit dem eigenen Anspruch auf verkürzte Arbeitszeit und auch mit dem Wahlrecht auf Zeit statt Geld wird insbesondere dem Wunsch nach Selbstbestimmung und Entscheidungshoheit bei Mitarbeitern Rechnung getragen. Das unternehmerische Interesse nach mehr oder auch flexibel verfügbarer Arbeitskapazität wird ebenfalls durch die Wahlmöglichkeiten aus verschiedenen Modellen für den Arbeitgeber erfüllt. Gleichzeitig wird mit allen diesen neuen tariflichen Regelungen aus meiner Sicht dem „agilen“ Gedanken Rechnung getragen: Das, was am besten dem einzelnen Unternehmen in seiner Situation nutzt, kann gewählt werden und ist immer wieder anpassbar. Unternehmen werden damit in gewisser Weise zu „Agilität“ und einer agilen Zusammenarbeit angehalten. Das bedeutet allerdings auch, dass es keine „Blaupause“ für das eine, „richtige“ Arbeitszeitmodell gibt. Vielmehr liefert der Tarifvertrag einen Rahmen, der mit den betrieblichen konkreten Bedürfnissen zu füllen ist. Die eigene betriebliche Lösungsfindung soll zudem gemeinsam zwischen Unternehmen, Betriebsrat und Mitarbeiter entwickelt werden. Die tariflichen Regelungen fördern aus meiner Sicht damit sogar noch das betriebliche Zusammenwirken aller Beteiligten und lassen hier Raum für kreative, unternehmensspezifische Gestaltung.
Besser oder schlechter?
Es gibt keine pauschale Antwort, was für Unternehmen besser ist. Der Charme dieser Regelungen liegt gerade in der möglichen jeweiligen Anpassungsfähigkeit der unterschiedlichen Regelungen auf die vorliegende betriebliche Situation. Je nach Unternehmen können ganz andere Handlungsbedarfe vorliegen. Die Wahl zwischen „alter“ und „neuer“ Welt bietet Unternehmen die Chance, sich mit den eigenen Gegebenheiten und den tariflichen Möglichkeiten auseinanderzusetzen, um dann das am besten passende Modell zu wählen. Es geht insofern nicht um einen Vergleich darum, wer von den beiden Welten die bessere ist – sondern die Entscheidungsfreiheit für Betriebe, überhaupt zwischen den Welten wählen zu können, ist der eigentliche Gewinn.
Durch kollektive Regelungen zu schnellen, legalen + gemeinsamen Lösungen
Anders als bei jeweils neu zu „denkenden“ Vereinbarungen bieten kollektive – insbesondere – tarifliche Vereinbarungen eine rechtssichere und damit auch vertrauensvolle Grundlage, die ggf. auch eine optimierte Reaktionsgeschwindigkeit ermöglichen kann. Unternehmen werden hier jedoch nicht umhin kommen, herauszufinden, was ihnen am besten nützt. Gleichermaßen sind die meisten Lösungen auf betrieblicher Ebene nur in einer einvernehmlichen Abstimmung mit dem Betriebsrat möglich. Dies heißt, es bedarf neben einer guten Betriebspartnerschaft auch ein gleiches Denken.
Spannende Erfahrungen
Die meisten der tariflichen Neuregelungen gelten zwar erst ab 2019 und werden daher in den Folgejahren noch um konkrete betriebliche Erfahrungen ergänzt werden (können). Die Vorbereitung, die „neue“ tarifliche Arbeitszeit bzw. die Ansprüche hierauf entsprechend umzusetzen, obliegt den Firmen schon ab dem Abschluss des Tarifvertrages, so dass schon jetzt Erfahrungen gesammelt werden können. Es bleibt trotzdem spannend abzuwarten, ob und wie sich Unternehmen und deren Belegschaften, die an den Tarifvertrag gebunden sind, dieser Herausforderung stellen werden, das für sich beste Modell auszuwählen. Mal sehen, was sich da in den nächsten Monaten so tut…und mehr dazu dann im neuen Buch „Vergütungssysteme gestalten: agil, rechtssicher + nichtmonetär“.
Quellen:
https://www.iwd.de/artikel/tarifbindung-so-weit-reicht-der-arm-der-tarifvertraege-390904/;
https://www.deutschlandinzahlen.de/tab/deutschland/arbeitsmarkt/tarifpolitik/tarifbindung-der-betriebe;
https://www.netzwerk-ebd.de/mitglieder/gesamtmetall-die-arbeitgeberverbaende-der-metall-und-elektroindustrie/
Redmann, Vergütungssysteme gestalten: agil, rechtssicher + nichtmonetär, Haufe (vorauss. Frühjahr 2019)