Zeit, Arbeit und das Dazwischen

Zeit, Arbeit und das Dazwischen

Inhalt

Morgens, halb acht. Der Laptop klappt auf, der Kaffee dampft, das Kind ruft aus dem Bad, der Hund bellt, ein Arzttermin steht an. Zwischen Kalendernotiz und Milchaufschäumer verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Leben.
Ein ganz normaler (Arbeits-)Tag im Jahr 2025.

Wir reden viel über Arbeitszeit. Über Stunden, Modelle, Pflichten. Aber eigentlich geht es um etwas viel Grundsätzlicheres: Nämlich wie wollen wir leben und wie viel Raum soll Arbeit darin einnehmen?

Während der Pandemie waren wir auf der Überholspur Richtung Flexibilität unterwegs. Plötzlich war möglich, was jahrzehntelang als undenkbar galt: Homeoffice, Gleitzeit, hybride Teams. Doch mit den aktuellen Multikrisen werden wir vielerorts wieder ins Korsett alter Strukturen gedrängt. Kontrolle ersetzt Vertrauen und Präsenz soll vermeintliche Sicherheit schaffen.

Arbeitszeit ist also nie nur eine individuelle Entscheidung, sondern immer auch ein Spiegel der Rahmenbedingungen: Sie verändert sich unter wirtschaftlichem Druck, nach politischen Vorgaben und durch kulturelle Prägung. Sie zeigt, wie sehr wir Menschen und Organisationen in Balance sind … oder eben nicht.

Darum lohnt es sich, einmal genauer hinzuschauen: Woher kommen wir? Wo stehen wir? Und wohin würde uns die Idee führen, dass Zeit und Arbeit wieder in ein echtes Gleichgewicht kommen müssen?

Historische Entwicklung

Die Arbeitszeit wirkt nur auf den ersten Blick wie eine Selbstverständlichkeit: „Ich arbeite x Stunden, dann habe ich Feierabend“. Doch der Weg dahin war steinig. Im Deutschland der Nachkriegszeit betrug die durchschnittliche jährliche Arbeitszeit je Erwerbstätigem noch etwa 1.966 Stunden (West-Deutschland, 1970) und sank danach rasch.
In den 1980er und 1990er Jahren war Arbeitszeitverkürzung ein politisches und gewerkschaftliches Thema: Tarifverträge reduzierten sukzessive die Normarbeitszeit, Teilzeit, Gleitzeit und das Arbeitszeitkonto wurden etablierter.  Samstags gehört Papa mir… eine heute wohl kaum mehr gangbare Parole.
Parallel veränderte sich die Arbeitswelt: Weg von Fabrik-Glocke, hin zu Dienstleistung, zur Wissensgesellschaft und zu immer mehr Technologie. Damit kamen neue Zeitmodelle und Arbeitsorganisationsformen hinzu: variable Arbeitszeiten, Schichtarbeit, Vertrauensarbeitszeit, Home-Office. Nicht nur in Deutschland ist Arbeitszeit inzwischen heterogener und flexibler geworden. 
Der historische Blick zeigt: Arbeitszeit war lange ein Steuerungsinstrument der Kontrolle und Effizienz. Heute wird sie zunehmend zum Ausdruck von Selbstbestimmung und lebensphasenorientierter Gestaltung.

Status quo

Heute arbeiten in Deutschland rund 37 Prozent der abhängig Beschäftigten in normaler Vollzeit zwischen 35 und 40 Stunden pro Woche (BAuA-Arbeitszeiterhebung 2021; Institut der deutschen Wirtschaft). 
Gleichzeitig zeigt sich: Durchschnittliche reale Wochenarbeitszeiten je Erwerbstätigen sind seit 1991 sogar leicht gestiegen und das trotz (oder gerade wegen) Flexibilisierung. 

Unsere Arbeitszeitmodelle sind vielfältiger geworden, doch der Wandel trifft nicht alle gleich. Teilzeit, Minijobs, atypische Beschäftigung sind verbreiteter. Die Herausforderung an Unternehmen und Politik muss heute lauten: Wie viel Arbeitszeit ist im jeweiligen Lebensabschnitt sinnvoll? Und wie lässt sich Leistung fair mit Lebenszeit vereinbaren?

Pläne der Bundesregierung

Der politische Diskurs in Deutschland bringt aktuell erhebliches Bewegungspotenzial mit sich. So plant die Bundesregierung eine Reform des Arbeitszeitgesetz (ArbZG), bei der nicht mehr die täglicheHöchstarbeitszeit allein im Fokus steht, sondern eine wöchentliche Obergrenze ins Spiel kommen soll. 

Im Koalitionsvertrag heißt es, man wolle „im Einklang mit der europäischen Arbeitszeitrichtlinie … die Möglichkeit einer wöchentlichen statt einer täglichen Höchstarbeitszeit schaffen“.  Konkret bedeutet dies, dass nicht mehr starre acht oder zehn Stunden pro Tag der Maßstab sein sollen – stattdessen könnte eine Wochen­höchstarbeitszeit (zum Beispiel 48 Stunden) eingeführt werden, innerhalb deren die Verteilung der Stunden auf einzelne Tage flexibler wird.

Parallel ist bereits eine verstärkte elektronische Arbeitszeiterfassung beschlossen. Der Koalitionsvertrag sieht vor, die Pflicht zur Erfassung „unbürokratisch“ zu regeln mit Übergangsfristen insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen. Gleichzeitig soll die vertraute Vertrauensarbeitszeitregelung grundsätzlich erhalten bleiben, sofern sie im Einklang mit EU-Recht steht. Operativ sind hier noch viele Fragen offen.

Das heißt für Beschäftigte und Arbeitgeber: Mehr Flexibilität ist denkbar, aber zugleich steigen die Anforderungen an fair gestaltete Arbeitszeitmodelle damit die Freiräume nicht zur Belastung werden. Es liegt also nicht nur eine Reform vor uns, sondern ein Test, wie Gesellschaft, Wirtschaft und Recht das Thema Arbeitszeit neu denken.

Alternative Ideen

Was wäre eigentlich, wenn wir Arbeitszeit nicht einfach nur verlängern oder kürzen – sondern neu denken?

Was mir dazu einfällt:

  • Output- und Ergebnisorientierung statt Präsenz: Nicht mehr die Stunden zählen, sondern was in dieser Zeit erreicht wird. Die Leistungserfassung ist seit jeher der „Gegenpol“ zur Zeiterfassung. Letztere gewinnt aufgrund der allgemein akzeptieren und verfügbaren Messgröße.
  • Jahresarbeitszeitkonten: Beschäftigte arbeiten in Hoch- und Tiefphasen unterschiedlich bei gleichbleibender Jahresarbeitszeit. Wenn nicht Tag – dann auch nicht nur die Variation hin zur Woche, sondern wir weiten die Dimension aus. Lebensphasen ändern sich nicht in festgelegten Zeiträumen, sondern sprunghaft.
  • Darauf aufbauend gibt es Lebensphasenmodelle: In jungen Jahren eher intensive Arbeit, im mittleren Lebensabschnitt Familien- oder Pflegezeiten, später Teilzeit oder Reduktion.
  • Selbststeuerung und Vertrauensarbeitszeit: Mitarbeitende gestalten ihre Zeit selbst; hier ersetzen klar umrissene, transparente und verbindliche Leitplanken starre Vorgaben.
  • Verkürzte Arbeitszeit-Modelle (z. B. 4-Tage-Woche): Hier wird diskutiert, ob weniger Tage bei gleichem Lohn oder bei akzeptiertem Lohnausgleich möglich sind. Der deutsche Modellversuch aus dem letzten Jahr zeigt ebenso wie internationale Ansätze positive Wirkung, bliebt aber bisher ein Nischenmodell für „gute Zeiten“.

Wenn wir weiterhin wollen, dass Arbeitszeit bedürfnis- und kontextorientiert gestaltet werden kann innerhalb der arbeitsrechtlichen Leitplanken, dann heißt das auch, Dass es klare, faire Absprachen zwischen Mitarbeitenden, Arbeitgebern und Betriebsräten geben muss. Sonst drohen Überlastung, Entgrenzung und Ungerechtigkeit. Die Grundlage flexibler Arbeitszeiten ist also immer eine offene Kommunikationskultur.

Ein Blick über den Tellerrand in drei ausgewählte Länder

Unsere Nachbarn in den Niederlanden gelten als Vorbild in Sachen Teilzeit und reduzierter Normalarbeitszeit: Viele Beschäftigte arbeiten deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Der Wettbewerbsvorteil: hohe Produktivität bei vergleichsweise kurzen Arbeitszeiten. Gleichzeitig ist Teilzeit-Kultur dort stärker etabliert mit positiver Auswirkung auf Work-Life-Balance. 

Im „Arbeitsland“ Japan kämpft man hingegen mit einer Arbeitskultur, die lange Arbeitszeiten und Überstunden glorifiziert. Schlagworte wie „karōshi“ (Tod durch Überarbeitung) stehen symbolisch dafür. Die Regierung startet Reformprogramme zur Reduzierung von Überstunden und zur Einführung flexiblerer Arbeitsmodelle. 
Der Blick dorthin zeigt: Mehr Stunden heißt nicht automatisch mehr Wohlstand oder Lebensqualität sondern im Gegenteil: Gesundheit und Lebensfreude leiden oft.

In Großbritannien und Island wurden großangelegte Testphasen zur 4-Tage-Woche durchgeführt: Beschäftigte arbeiteten z. B. vier Tage statt fünf, oft bei gleichem Lohn und bei vielen zeigte sich reduzierter Stress  bei gleichzeitig steigender Lebenszufriedenheit und auch einem Produktivitätsgewinn

International wird experimentiert mit Mut zum Modellwechsel. Wir können daraus lenen positiv wie negativ. Und: es gibt kein „one-size-fits-all-Modell“.  Wichtig sind Rahmenbedingungen, klare Kommunikation und betriebsspezifische Anpassungen.

Relevanz der Bedürfnisorientierung

Arbeitszeit ist mehr als eine Zahl auf der Stechuhr: Sie ist Ausdruck von Vertrauen, von Gemeinschaft, von Wertschätzung. Ich bin schon lange dafür Arbeitszeit nicht als starres Korsett zu begreifen, sondern als gemeinsame Vereinbarung zwischen Mitarbeitenden und Arbeitgebern, die die unterschiedlichsten Lebensrealitäten respektiert.
Gerade jetzt – und das wird sich eher verstärken als verschwinden – wo Fachkräftemangel, digitale Entgrenzung, Lebensphasenwechsel und Sinnfragen immer stärker zusammentreffen und dann noch „garniert“ werden mit wirtschaftlicher Instabilität, die alle Fortschritte in Frage stellt, ist eine solche Ausrichtung kein Benefit unter vielen. Sie wird zum strategischen Erfolgsfaktor. Mitarbeitende möchten nicht nur „arbeiten“, sondern auch leben: Für Familie, Pflege, Weiterbildung, Engagement, Regeneration.

Eine gerechte Regelung berücksichtigt Leistung und Lebenszeit. Das heißt nicht per se mehr oder weniger Stunden, aber die richtigen Stunden zur richtigen Zeit und gleichwertige Zeit für Regeneration. Arbeitszeit-Flexibilität muss daher gesetzlich abgesichert, betriebsintern transparent und zwischen beiden Seiten ausgehandelt sein.

Solange wir Arbeitszeit als „Risiko“ statt als „Ressource“ begreifen, werden wir im alten Denken gefangen bleiben.
Wenn wir anerkennen, dass Arbeit heute weniger mit Ort und Uhrzeit zu tun hat als mit Energie, Fokus und Sinn, kann aus Flexibilität echte Produktivität werden.

Die Zukunft der Arbeit entscheidet sich nicht daran, wie lange wir arbeiten. Sondern wie intelligent.
Arbeitszeit ist Teil eines gemeinsamen Zukunftsvertrags, in dem Menschen- und Unternehmensinteresse sich ergänzen und immer wieder hinterfragt werden dürfen.

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