Arbeitszeiterfassung oder das Ende der Flexibilität Britta Redmann

Arbeitszeiterfassung – Rolle rückwärts oder Sicherheit für alle?

Inhalt

Das war tatsächlich ein Paukenschlag in der Arbeitswelt, die in den letzten 2 Jahren ja so einige „Neuerungen“ über sich ergehen lassen musste.
Den ersten Stimmen nach einer, der eher einen Rückschritt als einen Fortschritt vermuten lässt.
Ist das so?
Vorweggenommen: eine Meinung können wir uns (vor allem aus arbeitsrechtlicher Sicht) erst bilden, wenn die für November angekündigte Urteilsbegründung vorliegt. Aber ein paar Gedanken dazu sortieren – das können und sollten wir schon jetzt.

Die Fakten

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in einem Grundsatzurteil klargestellt, dass eine generelle Pflicht besteht, die Arbeitszeit zu erfassen. Das BAG beruft sich dabei auf ein bereits im Mai 2019 gefälltes Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Schon vor drei Jahren hatte dieser im „Stechuhr-Urteil“ die Mitgliedsstaaten in die Pflicht genommen, ein System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen. Nach dem EuGH-Urteil ist in Deutschland zunächst nicht viel passiert. Das Bundesarbeitsgericht hat den Prozess jetzt – nun sagen wir einmal: beschleunigt.

Die Herausforderungen

Je nachdem – hier noch einmal der Verweis auf die ausstehende Urteilsbegründung – wäre die Konsequenz tatsächlich, dass so etwas wie mobile Arbeit aufwendiger wird. Auch für die Vertrauensarbeitszeit würde das bedeuten, dass Mitarbeitende alle Arbeitszeiten dokumentieren müssen bzw. der Arbeitgeber ein entsprechendes System zur Dokumentation zur Verfügung stellt. Der eigentliche Kern von Vertrauensarbeitszeit – nämlich der Verzicht des Arbeitgebers auf die Kontrolle der Arbeitszeiten – wäre dann nicht mehr erlaubt. Zwischen der Pflicht zur Dokumentation und der absoluten Kontrolle allerdings können (auch wenn es auf den ersten Blick nicht so wirkt) die berühmten Welten liegen.
Die weitaus größere Herausforderung dürfte darin bestehen, die Dokumentation nicht zu einem Verwaltungsakt an sich werden zu lassen (ich sage nur Nachweisgesetz…). Die physisch montierte Stechuhr wird es also kaum sein, über die wir ein- und auschecken. Hier sind smarte, einfache, technische Lösungen gefragt, deren Einführung dann auch vom Betriebsrat mitzubestimmen sind. Übrigens war genau diese Frage – nämlich die Entscheidung über ein etwaiges Initiativrecht des Betriebsrats bei Einführung einer technischen Einrichtung i.S.d. § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG – Auslöser des jetzt gesprochen Urteils des BAG.
Viele Unternehmen werden gerade in der aktuellen Situation zwischen Rohstoff- und Energiekrise, Fachkräftemangel und bevorstehendem 3. Corona-Winter wohl eher wenig Zeit und Energie in innovative Lösungen zur Zeiterfassung stecken wollen und können. Auch wenn nicht mehr alle arbeitsorganisatorischen Maßnahmen von der Spontanität des Jahres 2020 geprägt sind – sicher ist wenig.

Das kann im worst case zu einer sehr klassische Zeiterfassung, zu festen Arbeitszeiten und zumindest zu einer eheblichen Einschränkung der Flexibilität führen. Gar nicht einmal aus Kontrollsicht – sondern vielmehr aus praktischen Gründen. Verpflichtung führt nicht immer zur Besten aller möglichen Lösungen. Hier habe ich durchaus berechtigten Respekt, dass Unternehmen, die sich bisher wenig mit Agilität, New Work und Mitarbeiterwertschätzung beschäftigt haben tendenziell eher zu klassischen Kontrollen zurückkehren als solche, die bereits Zeit in eine neue Generation der Zeiterfassung investiert haben.

Die Chancen

Doch wer sagt denn, dass allein eine Erfassung der Zeit die Selbstbestimmung einschränken muss? Ist es nicht vielleicht sogar förderlich für ein Vertrauen, wenn durch eine korrekte Erfassung beide Arbeitsvertragsparteien einheitliche Daten über die Arbeitszeit zur Verfügung haben? Denn Unternehmen, die kontrollieren wollen, die ihre Mitarbeitenden zurück ins Büro beordern – die gab und gibt es ja immer noch.
Zwar kommt es in der Regel nicht auf die Präsenz bei der Arbeit, sondern betriebswirtschaftlich auf das erbrachte Arbeitsergebnis an – doch letztendlich „verkaufen“ Mitarbeiter ihre Zeit an den Arbeitgeber. Anders als bei der Vertragsgestaltung eines Selbständigen, der für ein bestimmtes Werk oder einen Dienst „beauftragt“ wird, stellt ein Mitarbeitender seine Zeit zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund kann eine Transparenz über die geleisteten Stunden sowohl für den Mitarbeitenden als auch für das Unternehmen durchaus hilfreich sein, auch den eigenen (Arbeits-)Vertragsinhalt hinsichtlich der vereinbarten Stunden immer wieder überprüfen zu können.

Sogar ausgewiesene New Work Beratungsunternehmen erfassen Zeiten. Durch Zeiterfassung unterscheidet sich Arbeitszeit klar von Freizeit. Erfasste Arbeitszeit schafft eine Kommunikationsbasis über Erfolg und Leistung. Diese Kommunikationsbasis ist nicht identisch mit der Messung von Leistung durch Zeit. Aber sie ist, so sehr wir alternative Bezugsgrößen einbringen, ein Baustein eines Bemessungskonzeptes.

In letzter Zeit haben wir oft festgestellt, wie sehr unser Arbeitsmarkt (Solo)Selbstständige und Kleinunternehmen vergisst. Gerade für sie ist eine Erfassung ihrer Zeit immens wichtig. So berechnen sich Projekte, so kalkuliert man Preise. Nur wenn Arbeitszeiten erfasst werden, haben wir eine Verhandlungsbasis für Gespräche über Bedarf, Aufwand und letztlich über Effizienz. Ressourcen – nicht zuletzt die eigene – sind knapp oder zumindest endlich. Den Wert einer Leistung können wir, wenn wir sie zukaufen, oft am ehesten in der objektiven Messgröße Zeit kalkulieren. Das ist nicht allein der Wert der erbrachten Zeit eines Dienstleisters, sondern auch der Wert der Zeit, die ein Unternehmen gegenüber der internen Leistungserbringung spart.
Zeiterfassung ist also gerade in agilen Netzwerkstrukturen weniger ein Kontrollinstrument als ein Instrument oder ein Indikator, miteinander über Bedürfnisse und Erwartungen zu kommunizieren. Oder wie Tobias Hagenau sagt: Selbstwirksamkeit kann erst durch die Transparenz der Zeiterfassung entstehen.

Die Hausaufgaben

Was wichtig ist: es geht gar nicht im Kern um das „Ob“ der Zeiterfassung, sondern um das „Wie“. Um das technische „Wie“, das die Kosten für die Arbeitgeberseite ebenso berücksichtigen muss wie den Aufwand für die Arbeitnehmenden. Um das organisatorische „Wie“ was Wegezeiten, Pausen im Homeoffice, Kreativzeiten und Lernzeiten einbezieht. Es geht darum Systeme zu entwickeln, die Zeiterfassung weit weg von „reiner Kontrolle“ definieren. Die wenigsten werden die Rolle rückwärts zu einer reinen Dokumentation von Anwesenheitszeiten machen wollen. Umgekehrt sollen aber die Arbeitszeiten im Homeoffice auch mindestens gleichwertig zu der im Büro sein. Nicht zuletzt geht es im Sinne eines achtsamen und gesunden Umgangs mit Arbeit auch darum, Überstunden nicht normal werden zu lassen. Ein Lunch vor dem PC ist nicht gleichwertig zu einer Mittagspause.
Arbeitszeiterfassungssysteme müssen künftig so gestaltet sein, dass sie eine gute Selbstkontrolle ermöglichen. Das braucht ein Umdenken sowohl bei den Mitarbeitenden wie auch bei den Arbeitgebenden. Ein Schnellschuss kann da durchaus neue Bewegung im System entfachen. Die Richtung aber ist sehr offen.

Fazit

Ein Fazit kann es hier an der Stelle noch nicht geben. Wohl aber die Feststellung, dass es wie so oft mehr als eine Seite der Medaille gibt.
Selbstorganisation und Selbstbestimmung über die Arbeitszeit werden auch bei einer Erfassung von Arbeitszeit immer noch möglich sein. Erfassung der Arbeitszeit ist an sich kein „Show Stopper“ und kann sogar für gegenseitige Transparenz sorgen und die Einhaltung von arbeitsvertraglichen Verpflichtungen (verabredete Arbeitszeit) leichter machen. Konflikte im Team und zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden lassen sich vermeiden. So habe ich es bereits 2020 in meinem Beitrag beschrieben. https://www.britta-redmann.de/agile-arbeitszeiterfassung-machen-gerichte-newwork-den-weg-frei/
Seitdem ist – wie der Kölner sagt – viel Wasser den Rhein runter geflossen. Für den Moment heißt es, sich Gedanken zu machen, aber nichts zu zerreden. Eine Lösung muss pragmatisch und praktikabel sein. Nicht zuletzt ist jede Zeiterfassung nur so gut wie das Vertrauen zwischen Mitarbeitenden. Daran wird keine Stechuhr der Welt (oder ihre Nachfolgetools – auf der gerade beendeten Messe Zukunft Personal hatten die zahlreichen Anbieter schon Sternchen in den Augen) etwas ändern.
Zeiterfassung kann eine Chance sein für mehr Produktivität oder eine Gefahr, wenn eben eine Dokumentationspflicht so einschränkt, dass das „Zurück zum Alten“ als vermeintlicher Weg des geringsten Widerstands angesehen wird.
Mehr denn je ist die Basis einer guten Zeiterfassung Vertrauen.

Quellen/Hinweise:

Pressemitteilung Urteil des BAG vom 13. September 2022 (1 ABR 22/21)
https://www.britta-redmann.de/agile-arbeitszeiterfassung-machen-gerichte-newwork-den-weg-frei/
https://www.xing.com/news/klartext/zeiterfassung-und-new-work-warum-das-gut-zusammenpasst-3082

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