3…2…1… New Work – ein bisschen so war es doch vor fast 2 Jahren, oder? Zumindest hatten man sich dieses New Work vorher so vorgestellt: man darf von zuhause aus arbeiten, sich die Zeit selbst einteilen, sich selbst organisieren… Soweit die rosarote Sicht auf die Auswirkungen von Corona auf die Arbeitswelt.
Wie so oft ist es eine Frage der Sichtweise. Was sich für mich noch einmal deutlich herausgestellt hat, ist die Rolle der Führungskraft. Damit bin ich sicher nicht allein und das ist jetzt auch keine brandheiße Neuigkeit. Aber der falsch interpretierte New Work Gedanke, dass es keine Führungskräfte (mehr) braucht, der sollte wohl endgültig vom Tisch sein.
Ich drehe die Frage aber bewusst um: Was brauchen Führungskräfte?
Die Super – Krisenführungskraft
Führungskräfte sollen je nach Interpretation besonders mutig voran gehen in der Krise. Sie sollen ihren eigenen Arbeitsalltag engagiert managen. Sie wissen zwar auch keinen Königsweg aus der Krise, aber sie sind Vorbild, Stütze und Seelentröster zugleich. Seitdem wir wissen, dass Multi-Tasking kein guter Arbeitsansatz ist, ersetzen wir dies durch den Begriff Polychronizität und meinen damit immer noch, dass Führungskräfte möglichst viele Fäden gleichzeitig in der Hand halten.
Wer oder was aber ist diese Führungskraft? Mich haben in der letzten Woche im Rahmen meiner Coachings und Gespräche zwei Perspektiven sehr nachdenklich gemacht:
Perspektive Produktionshalle
Da ist zum einen der Seniorchef eines mittelständischen Unternehmens. Seine Produktionshalle ist sehr klassisch aufgebaut (und klassisch heißt in dem Fall einfach praktisch aus Arbeitsorganisationssicht). Der Chef thront in seinem Büro über der Arbeitsfläche. Er schaut quasi von oben auf seine Belegschaft (keiner spricht hier von Team oder Mitarbeitenden) und sie schauen zu ihm hinauf. Und das hat mit Hierarchie nur sehr am Rande zu tun. Denn er ist einfach stolz auf das, was er da geschaffen hat und sieht sich in der Rolle des Beschützers, des Vorbilds. Die Belegschaft sieht ihn als den Arbeitgeber, der Sicherheit bietet. Sie sind es nicht nur gewohnt so zu arbeiten, sie mögen es auch. Gewiss nicht jeden Tag, aber als Gesamtsystem. Ein eingespieltes Uhrwerk.
Nun gäbe es sicher viele Arbeitsweltengestalter, die diese Art der Zusammenarbeit als wenig wertschätzend betrachten würden.
Aber genau dieser Chef stand jetzt zwei Jahre lang täglich vor der Frage, wie er seine Belegschaft mit Kurzarbeit durch die Krise bringt, wie er sein Lebenswerk sichert und wen – im schlimmsten Fall – er entlassen muss. Von Ambiguitätstoleranz und Adaptionskompetenzen hat er nie gehört. Aber Verantwortung und Schutzfunktion muss man ihm nicht beibringen – sie liegen in seiner Natur. Weniger als Chef, denn als Mensch. Dass sich einer seiner Mitarbeiter darum gesorgt hat, dass es ihm zu viel werde, das hat ihm ein Coaching verschafft und nun weiß er zumindest, was Resilienz bedeutet – auch wenn er seine Arbeitsweise sicher nicht mehr grundsätzlich ändert. Die Fürsorge seines Mitarbeiters war zugleich der größte Beweis seiner Führungsstärke.
Perspektive Lehrerzimmer
Ein anderes Gespräch habe ich mit der Rektorin einer Schule geführt. Fürsorgepflicht, so sagt sie, wie soll das gehen? Dann dürfte ich keine Lehrerin und keinen Lehrer meines Kollegiums zur Arbeit kommen lassen. Jeden Tag steht die Entscheidung an, ob sie sich um die Schülerinnen und Schüler oder um das Kollegium sorgt. Sorge für sich selbst? Ist im Schullalltag nicht vorgesehen genauso wenig wie spontane Urlaubstage oder ein Home Office Tag.
Führung ist Fürsorge
Was ich mit diesen Beispielen zeigen möchte?
Führung ist mehr denn je eine Aufgabe geworden, bei der wir dafür Sorge tragen müssen, dass sie jemand (noch) gerne macht. Denn dass wir Führungskräfte, Menschen mit Rückgrat und Mut und auch mit dem Herz am richtigen Fleck brauchen, ist wohl unbestritten.
Es gibt sie nicht, „die“ Führungskraft. Da werden eventuell demnächst Personalchef:innen großer Klinikverbände vor der Aufgabe stehen in großem Umfang Personal, auf dass sie absolut nicht verzichten können, freizusetzen, weil die Mitarbeitenden nicht geimpft sind. Den Umstand an sich möchte ich hier nicht thematisieren. Aber diese Aufgabe, die dann ansteht, hat in doppelter Hinsicht Brisanz: Pflegepersonal wird händeringend gesucht und genau diejenigen, deren Aufgabe darin besteht es zu rekrutieren, setzen es frei. Weiterhin geht es auch um Menschen. Selbst wenn man deren Entscheidung bezogen auf ein Thema eventuell nicht versteht, hängen an der Kündigung Existenzen. Der Prozess ist extrem belastend für alle Beteiligten.
Das mag ein Extremfall sein, aber ich habe gerade in der letzten Zeit – auch wenn es aus dem Fokus der Presse verschwunden sein mag, immer wieder mit Personaler:innen und Personalverantwortlichen gesprochen, die sagen „ich kann nicht mehr“. Sie möchten und können keine Entscheidungen mehr treffen darüber, bei wem es weniger weh tut in Kurzarbeit zu gehen oder gar seine Stelle zu verlieren.
Der Fachkräftemangel mag durch Corona nicht verschwunden sein, aber es gibt Branchen, die die Krise weniger gut überstanden haben als andere. Und gerade hier, wo der Druck eh schon immens ist, sind die Führungskräfte ausgebrannt.
Erleben zu müssen, dass Kolleginnen und Kollegen in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, gehört auch für Führungskräfte zu den einschneidendsten Erfahrungen des Jobs. Nicht selten zieht man neben dem Schmerz des Betroffenen auch Widerstände im Team auf sich.
Resilienz statt Resignation
Führungskräfte sind keine Einzelkämpfer und erst recht nicht mit einer Ritterrüstung versehen oder gegen alle Angriffe gefeit. Menschen können jedoch Herausforderungen dann resilient bewältigen, wenn sie dabei unterstützt werden. Damit Führungskräfte Mitarbeiter:innen dabei unterstützen können, ihre Resilienz zu aktivieren, müssen sie zuerst gut für sich selbst sorgen. Fürsorge für die eigene Person bildet das Fundament, um zuverlässig Verantwortung für andere übernehmen.
Vorgesetzte haben mit ihrem Führungsverhalten einen bedeutenden Einfluss auf die Gesundheit und Arbeitszufriedenheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aber eben auch umgekehrt! So lässt die wenigstens Führungskräfte der Umgang und das Verhalten ihrer Mitarbeiter:innen sie völlig kalt. Und da Zusammenarbeit keine Einbahnstraße ist, haben daher genauso Mitarbeiter:innen eine Mit-Verantwortung für ihre Führungskraft, was deren Gesundheit und Arbeitszufriedenheit anbelangt.
Hieran müssen wir unbedingt arbeiten. Je mehr schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen, desto mehr Zeit müssen Führungskräfte für deren Verarbeitung haben. Der Seniorchef des mittelständischen Unternehmens zum Beispiel nutzt seine Zeit auf seinem Posten über der Werkshalle auch zum Durchatmen – das ist sein Leuchtturm, auf den er zum Auftanken geht und von dem er wieder zur Belegschaft zurückkehrt. Er bewegt sich auf eine andere Ebene – das wäre aus Sicht des Resilienztrainings ein idealer Rückzugsort und nicht der aus New Work Sicht verpönte Aufsichtsposten.
Die Rektorin in der Schule muss sich distanzieren können von der Fürsorgepflicht über ihr Kollegium, denn sie darf darüber gar nicht oder nur in begrenztem Umfang entscheiden – streng genommen ist sie aus arbeitsrechtlicher Sicht nur eine „begrenzte“ Führungskraft, denn ein Teil der Entscheidungen wird ihr per Schulbehörde abgenommen. Diesen Zwiespalt muss sie kompensieren können. Die Struktur unsere Bildungssystems sieht das (noch) nicht vor, aber die Vielzahl der nicht besetzten Schulleitungspositionen zeigt deutlich: Führung an Schulen braucht resiliente Menschen und die brauchen ein Umfeld, dass ihre Grundbedürfnisse achtet.
Achtsamkeit & Resilienz
Führungskräfte benötigen Tools und Methoden, um gleichzeitig empathisch zu sein und sich von Gefühlen in Krisen nicht „wegreißen“ zu lassen. Jeder Mensch ist anders und jeder Mensch weiß selbst am besten, was ihr oder ihm guttut. Darauf sollte man bei sich selbst sehr gut hören. Es gibt aber auch allgemeingültige Tipps, die man dann selbst mit Leben füllen kann, dazu gehört:
- zu akzeptieren, dass nicht alle Probleme gelöst werden können, die eigenen Ressourcen und Möglichkeiten (gerade jetzt) begrenzt sind;
- optimistisch zu bleiben und sich selbst „Gutes“ zu tun. Führungskräfte brauchen gerade in Ermangelung externer Wertschätzung ein selbstincentiviertes Belohnungssystem.
- selbstbewusst bleiben: man ist in diese Rolle gekommen, weil man kompetent ist und gut. Die Krise verschärft die Situation; oft reagieren Menschen anders und über. Das muss man aushalten und an die eigene Wirksamkeit glauben.
- Verbündete suchen: gemeinsam Verantwortung zu übernehmen tut nicht nur uns selbst, sondern auch anderen gut. Das kann innerhalb des eigenen Unternehmens, aber auch außerhalb sein;
- Emotionen sind gut, aber manchmal sind Lösungsorientierung und Distanz besser. Fokussiert bleiben, ohne verbittert zu werden;
- an den Sommer denken – es wird nicht alles wie früher, aber es wird sicher wieder besser. Und dann gehen Teams, Belegschaften und Kollegien gemeinsam mit ihren Führungskräften gestärkt aus dieser Krise hervor.
Und dann heißt es wirklich 3…2…1… neue Arbeitswelt – wir sind bereit!