Fast zwei Jahre befinden wir uns inzwischen in der Pandemie – in einer Zeit, in der wir zu Beginn noch auf das „New Normal“ gehofft haben und in der wir irgendwann verstanden haben, dass es kein zurück gibt.
Manche Branchen und Unternehmen tun schon so, als wäre das alles ganz einfach und nun ist endlich New Work überall angekommen. Doch die Herausforderungen bleiben groß – gerade im Spannungsfeld dieser vermeintlich neuen und der alten Arbeitswelt. Wenn wir jedoch genau hinschauen, existieren beide parallel zueinander und das mit oft sogar hohen Mauern zwischen beiden Welten.
New Work trifft Old Work
Denn während die Wissensarbeiter sich in mobilen Arbeitskonstellationen „eingegrooved“ haben, braucht es in vielen Branchen andere – unterschiedliche – Lösungen. Wie so oft eher nach dem Prinzip der jeweiligen Verstärkung – also wo vorher schon etwas möglich war, ist jetzt mehr möglich und wo man sich noch nicht bewegt hat oder bewegen konnte, wird die Verharrung jetzt umso offensichtlicher. Der Bildungssektor ist (bis auf die Nutzung der digitalen Endgeräte) immer noch nicht viel weiter mit einem Konzept, das Lernen neu denkt. Und zwar nicht nur für den Moment, sondern als Vorbereitung auf eben eine sehr flexible und herausfordernde Arbeitswelt.
Der stationäre Einzelhandel hat noch nicht wirklich Ideen, wie er gegen Online-Giganten und eine digitale Plattformökonomie ankämpfen oder zumindest ansatzweise mithalten kann. Mobilität muss immer noch völlig neu gedacht werden – führen doch die Unsicherheit über Kontakte in öffentlichen Verkehrsmitteln zurück zu einem „my car is my castle“ Verhalten.
Das alles hört sich nicht so sehr nach einer schönen neuen Welt an. Zumindest nicht nach einer, in der jeder Mensch an einem flexiblen System partizipieren kann.
Oder doch…?
Blick nach vorn!
Jetzt ist das aber ja ein Blick nach vorne und ich bin auch ganz sicher, dass wir in den letzten Jahren trotz oder wegen der Pandemie viel mehr erreicht haben, als es ohne sie möglich gewesen wären. Wir müssen nur – und dazu sehe ich „uns“ in der Bubble der Wissensarbeiter und als diejenigen, die von neuen Konzepten profitieren und sie nutzen dürfen unbedingt in der Pflicht! – darauf achten, dass wir EINE neue Arbeitswelt gestalten.
In der sind Bedürfnisse ganz unterschiedlich. Für mich sehe ich meine Herausforderungen in Projekten und Teamkonstellationen vor allem in den folgenden drei Punkten:
1. Wie gelingt beidseitige Flexibilität als Win-Win-Lösung für alle?
Wenn sich Mitarbeiter mehr flexible, selbstbestimmte Arbeitszeiten wünschen, dann ist das legitim. Wir wünschen uns ja selbstorganisierte Teams, wir wünsche uns Menschen mit Meinung und Profil. Auf der anderen Seite dürfen wir aber das Reagieren auf schwankende Auftragslagen und die Planbarkeit für die Produktivität eines Unternehmens nicht aus den Augen verlieren. Eine nicht besetzte Maschine kann eben nicht auf ihre Work-Life-Balance achten – sie hat einzig und allein eine Work-Balance. Das Thema ist nicht neu und umso wichtiger ist ein Fokus hier in Zukunft. Für den beidseitigen Bedürfnischeck empfehle ich gerne mein Buch „Vergütungssysteme gestalten: agil, rechtssicher und nicht-monetär“. Hier geht es genau um dieses Spannungsfeld von unterschiedlichen Bedürfnissen. Selbstorganisation in einer neuen Arbeitswelt hat nämlich nichts mit Egoismus und Durchsetzen der eigenen Wüsche zu tun, sondern zielt ab auf ein ausbalanciertes Konzept der Nutzenmaximierug. Das ist ein sehr altes ökonomisches Prinzip und passt doch wunderbar in eine neue innovative Arbeitswelt. Darin liegt übrigens exakt mein Beratungsansatz begründet, wenn sich scheinbar konträre Meinungen gegenüberstehen: ein Perspektivwechsel hilft sich in die Rolle der jeweils anderen Partei hineinzuversetzen und das führt ganz oft zu viel besseren gemeinsamen Lösungen. Im Idealfall eben zur Win-Win-Situation mit einer ganz neuen Dimension!
2. Spannungsfeld Arbeitszeit: wie gelingt es, flexible Spielräume zu schaffen innerhalb des gesetzlichen Rahmens und der jüngsten Rechtsprechung des EuGH zur Arbeitszeiterfassung?
Die Ampel-Koalition hat sich im Koalitionsvertrag insbesondere auch zur Vertrauensarbeitszeit bekannt. Wie sieht es dann in der Praxis aus? Kommt das Tracking per App oder wie müssen „Vertrauensarbeitszeitler“ dann Zeit erfassen? Ist das Rückschritt oder Fortschritt? Sobald wir Arbeitszeiten erfassen, stellen wir fest, dass in vielen Fällen die „alten“ Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes nicht mehr zu unserem heutigen (Arbeits-)Alltag passen. Ziel sollte es doch sein, Arbeitszeiterfassung nicht als ein „zurück zur Stempeluhr“ zu sehen, sondern als ein modernes Instrument einer transparenten und fairen Zeiteinteilung. Und auch hier meint fair = fair für beide Seiten. Niemand braucht „Nine-to-Five“-Regelungen ohne Spielraum – aber es geht eben auch nicht ohne Spielregeln. Meine Perspektive für die Arbeitszeit in 2022: Wir brauchen Spielräume auf beiden Seiten für private und produktionsbedingte „Hochphasen“ oder Sonderfälle. Wir müssen Zeit gemeinsam neu denken und sinnvoll investieren. Dafür müssen wir sie aber auch sinnvoll erfassen und hier neue Technik nutzen.
3. Wie gestalten wir gemeinsam Homeoffice und mobiles Arbeiten und zwar weit über das Rechtsthema hinaus?
Hier geht es vor allem um eine neue Kultur der Zusammenarbeit. Ich bin überzeugt davon, dass uns das Arbeitsrecht einen guten und verlässlichen Rahmen bieten kann und damit auch Vertrauen fördert.
Ich höre nicht auf zu fragen:
- Was brauchen Unternehmen, um ihre Arbeitskultur agil zu gestalten?
- Wo liegen besondere Herausforderungen für Start-Ups?
- Passen unsere aktuellen Gesetze eigentlich noch zu unserer sich so dynamisch entwickelnden Arbeitswelt?
Meine Antwort sind agile Regelungspakete, die Mobilität und Flexibilität selbstverständlich mit einbeziehen und vor allem für alle beteiligten Transparenz schaffen. Eine innovative Kultur basiert genau auf diesen Werten: Auf Vertrauen und Transparenz. Genau dann wagen wir Veränderung!
Perspektive für 2022
Bedürfnisorientierte Flexibilität, Arbeitszeiterfassung und Arbeitsrecht – das hört sich also nur auf den ersten Blick nach gewohnten Themen an. Doch deren kreative Ausgestaltung das sind meine Kernaufgaben für 2022. Es geht mehr denn je darum das Erlernte und die Erfahrung mit dem Zustand des abrupten Wandels zu kombinieren und daraus eine neue Arbeitswelt zu schaffen. Das wird nur gemeinsam gelingen. Und je mehr Perspektiven wir integrieren, desto eher werden wir ein Team werden. Und das ist es, was brauchen: Innovative Teams für große Herausforderungen. Ich freue mich auf 2022!