Kommunikation über Arbeitszeit - Zeitgefühl Britta Redmann

Wir müssen über Zeit reden – Vom Zeitgefühl zum „Arbeitszeitgefühl“

Inhalt

Nicht über Zeiterfassung oder über die „rechtliche Arbeitszeit“ sollten wir reden . Sondern viel grundsätzlicher über Zeit.
Kaum ist das Urteil zur Zeiterfassung des BAG ein wenig gesackt, fangen die immer gleichen Diskussionen an: Wie erfassen wir nun Zeit, was ist gerecht, welche Tools gibt es und wie schaffen wir es uns Zeit zuzugestehen?
Dabei startet das Thema „Zeiterfassung“ viel früher.

Ich bin überzeugt davon, dass es in fast jedem Unternehmen notwendig werden wird sich Zeit zu nehmen, um ganz anders als bislang über Zeit zu reden. Denn Ausgangspunkt der Betrachtung kann wohl nicht mehr nur die physikalische Zeit sein, deren Verlauf uns jede Uhr anzeigt. Ebenso müssen wir die „subjektive Zeit“ in Betracht ziehen, also die Zeit die jeder Mensch erlebt und die jeder Mensch anders als die anderen Menschen ganz individuell erlebt und empfindet. Reden wir also über das „Zeitgefühl“ bzw. da wir uns ja auf die Arbeitswelt beziehen, auf das „Arbeitszeitgefühl“.

Das Raum-Zeit-Phänomen

Kaum ein Thema (naja, vielleicht die Liebe) wird in Filmen so sehr thematisiert wie die Zeit. In „Zurück in die Zukunft“ wollen wir einmal wissen, wie es vor 20 Jahren war bzw. in 20 Jahren sein wird. In „In einem Land vor unserer Zeit“ fasziniert uns, warum die Dinosaurier ausgestorben sind und wie unsere Erde wohl zu Beginn aller Zeit ausgesehen hat. In „Momo“ stehlen uns die grauen Männer die Zeit und allein Beppo, der Straßenkehrer weiß, dass wir die Zeit nicht beschleunigen könne.
In „Täglich grüßt das Murmeltier“ kommen wir gar aus einem einzigen Tag nicht mehr heraus – gefangen in der Zeitschleife und unserer eigenen immer gleichen Routine. Mal ganz abgesehen von den unzähligen Science-Fiction Filmen, in denen wir die Zukunft vorhersehen wollen in ihrer dramatischsten, künstlichsten oder fremdesten Form.

Zeit beschäftigt uns immer. Wir sind umgeben von Zeitmessern und wollen doch, wann immer möglich, die Zeit vergessen. Und wie oft hört man andere Menschen sagen: „Oh, ich habe die Zeit vergessen!“

Sprichwörtlich möchte man manchmal die Zeit anhalten, gerade in wundervollen Momenten und doch bleibt die Zeit nur dann stehen, wenn wir es häufig nicht wollen. Zeit rast, fliegt, Zeit ist Geld, Zeit heilt alle Wunden, es ist oft zu früh oder zu spät. Zeit wird verschwendet und vertrödelt und eigentlich haben wir alle nie genug Zeit.

Erstaunlich, was wir der Zeit alles so zuschreiben, wo sie doch – physikalisch gesehen – tatsächlich einfach wirklich immer gleichbleibt. 60 Sekunden, 60 Minuten, 24 Stunden, 1 Monat, ein Jahr. Es gibt kaum etwas Beständigeres als die Zeit und doch ist sie so vielseitig, so komplex. Wir sagen häufig, , dass Zeit sich verändert – dabei sind wir es, die das tun.
Sich das vor Augen zu führen erklärt vielleicht, warum es mir als Arbeitsrechtlerin und Führungskraft so wichtig ist, dass wir nicht leichtfertig urteilen über Menschen und deren Zeiteinteilung oder wie viel sie in welcher Zeit schaffen (Produktivität) und vor allem vorurteilsfrei werden. Menschen die in verschiedenen „persönlichen Arbeits-Zeiten“ leben, die einen arbeiten für die Kollegen manchmal „zu schnell“, die anderen dagegen manchmal „zu langsam“, erzeugen ohne das sie es eigentlich wollen, Konflikte. Konflikte, die – kurz gesagt – mit dem Vorwurf beginnen: „Du arbeitest zu langsam, Du hältst alles auf!“ oder mit dem Vorwurf: „Arbeite nicht so schnell, so schnell kann ich nicht arbeiten und wenn Du so schnell weiter machst, setzt mich der Chef unter Druck auch so schnell sein zu müssen und das schaff ich nicht.“ Solche „Geschwindigkeitskonflikte“ oder „Zeitprobleme“ sollten durch Unternehmen nicht klassisch konfrontativ gelöst werden, sondern mit anderen Methoden. Genauso gibt es viele Konflikte, die sich darum drehen, das einige Kolleg:innen weniger Tage arbeiten wollen oder z.B. auch einige nur vormittags arbeiten wollen oder auch nur können, z.B. aufgrund der Kinderbetreuungssituation. All dies führt zu unterschiedlichen Zeit-Bedürfnissen im Team.

Unausgesprochene Zeitkonflikte müssen auf den Tisch, damit Zusammenarbeit funktionieren kann und es Menschen und Unternehmen gut geht.
Hier bieten sich sognannte Mediationsworkshops (Achtung: nicht zu verwechseln mit „Meditation“ ) in Unternehmen unbedingt an.

Ein Zeit-Tag

Ein großer Teil der gerichtlichen Arbeitskonflikte entstehen durch tatsächliche oder vermutete fälschliche Arbeitszeiterfassung bzw. Nicht-Erfassung. Ein anderer großer Teil von Konflikten am Arbeitsplatz entsteht, weil Menschen zu langsam arbeiten, als die Vorgaben es vorsehen, oder vielleicht auch nur langsamer als die Kollegen mit denen sie im Team arbeiten. Wir sind es auch gewohnt oder unterstellen es oft, dass wer lange arbeitet auch viel leistet. Dass je hierarchisch höher man im Unternehmen angesiedelt ist, desto länger muss man arbeiten – oder eben „anwesend“ sein. Zeit und Leistung sollen dabei unmittelbar miteinander korrelieren. Was gleich darauf folgt und nicht weniger wichtig ist: Zeit und Vergütung korrelieren ebenfalls miteinander. Wer zeitlich weniger arbeitet, bekommt weniger Geld.
Zeiterfassung – egal wie – macht erst dann Sinn, wenn wir gemeinsam als Team mit allen am Prozess Beteiligten diese Zusammenhänge grundsätzlich in Frage stellen.

Immer, wenn es um sehr persönliche Fragen aus vielerlei Perspektiven geht, ist die Mediation eine sehr gute Methode. Denn sie findet Lösungen, die nicht nur auf (rechtliche, vertragliche) Ansprüche gerichtet ist sondern den Fokus auf Bedürfnissen hat. Und sie erzeugt häufig deutlich weniger ungewollte Folgekonflikte, als tradierte konfrontative Konfliktmodelle. Denn es wird „die Lösung“ gemeinsam von den Beteiligten entwickelt und es wird auch kein Urteil von einem Dritten „gefällt“.

Als Mediatorin würde ich euch gerne fragen: Wann habt ihr euch im Team, im Unternehmen, unter Kolleg:innen zuletzt Zeit genommen, um über Zeit, über Zeitgefühl über „Arbeits-Zeitgefühl“ zu diskutieren – ganz grundsätzlich?
• Warum arbeitet ihr genau die Anzahl an Stunden, die ihr gerade arbeitet?
• Wie fühlt ihr die Zeit während der Arbeit?
• Arbeiten die Kollegen für Euch manchmal zu langsam, manchmal zu schnell?
• Wie definiert ihr Work-Life-Balance?
• Ist Multitasking möglich?
• Was stresst euch?
• Wie wichtig ist euch Urlaub?
• Seid ihr Lerche oder Eule?
• Was ist euer zeitaufwändigstes Hobby?
• Wofür habt ihr nie genug Zeit?
• Macht ihre gerne Mittagspause?
• Nehmt ihr gedanklich Arbeit mit nach Hause – vielleicht sogar ins Bett?
• Könnt ihr gut abschalten?
• Arbeitet ihr lieber in Ruhe oder an einem trubeligen Ort?
• Braucht ihr Abwechslung oder Fokus?
• Seid ihr Sommer- oder Wintertypen?
• Wie ist euer Biorhythmus? Und kennt ihr den überhaupt?
• Plan ihr gerne oder lebt in den Tag?
• …
Oder aber auch aus organisatorischer Sicht:
• Haben wir genug Mitarbeitende für unsere Aufgaben?
• Nehmen wir uns Zeit fürs On- und Offboarding?
• Sind uns Meetings wichtig?
• Haben wir terminliche Notwendigkeiten?
• Lernen wir gemeinsam und wenn ja wann?
• Sind unsere Produkte der Zeit voraus oder hinken wir hinterher?
• Nehmen wir uns zwischen den Abteilungen Zeit zum Austausch?
Die Fragen entstehen und wachsen im Team.

Sicher lassen sich nicht alle individuellen Bedürfnisse unter einen Hut (bzw. in das Arbeitszeitgerüst eines Unternehmens) bringen. Aber von den anderen zu wissen, wie sie Zeit bewerten, sie empfinden und was ihnen persönlich wichtig ist, schafft zunächst Transparenz, Verständnis und dann Vertrauen. Jeder Mitarbeitende und jeder Arbeitgebende für sich hat ein hohes Bedürfnis nach Flexibilität und Entscheidungshoheit. Und beides ist keine Einbahnstraße.
Erst wenn wir die individuellen und unternehmerischen Bedürfnisse kennen, können wir die möglichen Spielräume ausloten und abstecken. Das „innere Zeitfenster“ gibt sich also aus den einzelnen Wünschen. Hinzu kommen die äußeren Begrenzungen des Arbeitsrechts – die Wirklichkeit.

Ich empfehle unbedingt von innen nach außen zu arbeiten. Und da wiederum sind Zeit-Mediationen ein perfektes Hilfsmittel.
Das Arbeitsrecht wird oft zu unrecht als „Taktgeber“ vorgeschoben, weil es viel komplexer ist sich aus dem System heraus mit Zeit (und Menschen) zu beschäftigen. Das engt den Blick unnötig ein, weil es gar nicht frei denken lässt. Warum also nicht mit den Wünschen starten?

Und warum Arbeits-Zeit-Mediation?

Die Chancen und Vorteile einer Mediation sind schnell zusammengefasst:
• Sie ermöglicht übergreifende rechtliche und wirtschaftliche Lösungsansätze.
• Sie berücksichtigt individuelle Interessen und Bedürfnisse.
• Sie setzt auf die Entscheidungsmacht der Beteiligten (intrinsisch motiviert).
• Sie stärkt Beziehungen, ermöglicht Kommunikation und erzeugt Vertrauen.
• Sie ermöglicht ungezwungene und intuitive Rollenwechsel in die Arbeitgeber- und Mitarbeitendensicht.
• Sie ist kostengünstiger als langwierige Rechtsstreitigkeiten, da sie unmittelbar und unbürokratisch im operativen Betrieb eingesetzt werden kann – wir müssen uns nur Zeit nehmen.

Diese Faktoren sind gerade im unternehmerischen Kontext, in dem es um innovatives Arbeiten und Arbeitszeit geht, von besonderer Wichtigkeit. Damit sich neues Denken nachhaltig etablieren kann, bedarf es Vertrauen und ein echtes Miteinander. Dieses kann in der Praxis nur gelingen, wenn die gestaltenden Betriebspartner (Mitarbeitende, Betriebsräte, Arbeitgeberparteien) über Kompetenzen verfügen, die dieses Vorhaben unterstützen. Das wiederum sind vor allem Kreativität für Lösungen, Mut für die Umsetzung dieser Lösungen und auch Mediationskompetenz, um im beiderseitigen Interesse mit einem gemeinsamen Ziel zu agieren.

Flexible Arbeitszeiten und ggf. viel Arbeitszeithoheit für Mitarbeitende muss die Unternehmen gleichzeitig wettbewerbsfähiger und stärker machen. Arbeitszeit ist definitiv ein Attraktivitätsmerkmal bei Mitarbeitern und solchen, die es werden sollen.

Mein Fazit und meine Frage

Es gibt eine Entwicklung, nach der Mitarbeitende scheinbar lieber mehr Zeit als Geld in Anspruch nehmen möchten. Aber diese Pauschalaussage allein trägt ebenso wenig wie die „alte“, nach der mehr Arbeitszeit zu einer besseren Leistung führt. Individuelle Bedürfnisbefriedigung ist die höchste Kunst der Vergütung. Es geht um nicht weniger als Lebenszeiterfassung – eine völlig neue Organisationsaufgabe in Unternehmen.

Meine Ausgangsfrage an euch lautet: Was ist eine „gute“ Arbeitszeit – aus Sicht der Arbeitnehmenden, der Arbeitgebenden, der Gesellschaft?
Habt ihr Lust und Zeit mit mir einen ersten Schritt dorthin zu gehen?

Quellen/Hinweise

Redmann; Britta: Arbeitswelt 4 0 – mit Mediation zu flexibler Arbeitszeit, in: KonflikDynamik 2019
Redmann; Britta: Vergütungssysteme gestalten, Kapitel 3: Zeit statt Geld, Haufe 2022

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